Mit Sicherheit haben Sie im ersten Teil gelesen, wie zwei Chemiestudenten mit Maschinen in den instrumentellen Analysen hantieren. Doch nun folgt der zweite Teil, die klassischen Analysen. Hier wird mit gewöhnlichem Laborgerät hantiert, und es ist keine Partnerarbeit angesagt, doch wir stehen weiterhin zu dritt in einer Box. Gehaltvolle Konversationen bleiben also auch im zweiten Praktikumsteil nicht aus.
Aus dem Leben zweier Chemiestudenten, der Tragikomödie zweiter Teil, Montag, 8 November.
Ich habe am Morgen eine Matheübung, Präsenz. Dementsprechend bleibe ich am Institut. Dort bin ich zwar kaum bis gar nicht produktiv, konnte aber einem Erstsemester bei Physikalischer Chemie weiterhelfen. Danach gehe ich mit denen zusammen in die Mensa und vollbringe anschließend das Kunststück, mich auf dem Weg von Mensa zurück zum Institut zu verlaufen. Ein Genie findet ja manchmal die einfachsten Wege nicht, heißt es. Nun ja. Wie üblich ein paar Minuten zu spät, erstmal einen neuen Schlüssel abholen, da wir uns jetzt in einem anderen Stockwerk befinden. Ich bin ein bisschen verloren, dass die Türen zu den Laborbereichen falsch beschildert sind, macht die Sache auch nicht besser. Sachen in den Spind geschlossen, Friedrich stellt des Weiteren fest, dass wir in einer Laborbox sind (eine Art kleine Einheit mit drei Abzügen). Wir sind uns direkt im Vorhinein einig, dass die dritte Person (die sich übrigens als sehr freundlich sowie hilfsbereit herausstellt) die mit uns in einer Box sein wird, uns leid tut.
Nun beginnt der Laborteil wie üblich damit, dass wir erst einmal nachschauen müssen, ob auch alles Gerät da ist. Reine Routinearbeit. Zeit genug für Friedrich, von seiner Großartigkeit zu reden, allerdings nicht Zeit genug für mich, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Das tat jedoch ganz bald ein anderes Ereignis, welches mir den größten Triumph seit langer Zeit einbrachte… Der Praktikumsleiter kommt vorbei, Friedrich titriert nichtsahnend sein Carbonat, da spricht der Leiter:,, Ich will kein Spielverderber sein, aber Sie müssen die Kappe im Labor abziehen”. In Friedrichs Auge sieht man ein Entsetzen, das sonst wohl nur bei Franzosen in Elsass-Lothringen zu sehen ist, wenn sie von weitem Deutsche sehen, die gekommen sind, um fremde Länder mit Handtüchern zu annektieren. Friedrich versucht sich zu drücken, indem er die Kappe mit dem Schirm nach hinten aufsetzt, doch es ist sein Waterloo und mein Triumph: es hilft nichts, er muss seine Kappe absetzen. Voll Schmach und Schmerzen darüber, dass er seine Seele nun hergeben muss, fügt Friedrich sich dem Willen der Obrigkeit, während ich den Triumph auskoste, das meine Gewissheit wahr geworden ist, dass er sie früher oder später wird absetzen müssen. Friedrich ist zu Tode beleidigt. Doch auch ich werde bald auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als ich feststelle, dass ich selbigen verlassen muss und einen Hocker brauche, um die Bürette von oben aufzufüllen. Klein lebt es sich nicht immer leicht; ich sollte mir wohl als Ausgleich einen Napoleon-Komplex zulegen. Doch mein Triumph über den Verlust von Friedrichs Kappe bleibt erhalten, als ein Kommilitone von uns vorbeikommt und überrascht sagt:,,Ach Friedrich, du bist das, habe dich ohne deine Kappe gar nicht erkannt!” Tatsächlich ist es das erste Mal, dass man Friedrich ohne Kappe sieht. Ich lache voller Schadenfreude, Friedrich tut hingegen tut voll theatralischem Hass seinen Unmut über die Laborsicherheitsregeln kund. Jedoch baue ich langsam ab, da ich lange nichts gegessen habe und mache leider keine zweite Analyse mehr. Dafür räume ich umso gründlicher auf, was auch nötig ist, denn diesmal gibt es eine Kasse mit Strafen, falls man gegen Laborregeln aller Art verstößt. Müde und unterzuckert verlasse ich schließlich das Labor; Friedrich diskutiert darüber, mit welcher peinlichen Frisur er morgen zur Uni kommen könnte, um sich erstens, seinen Ruf (der sowieso nicht existiert) zu ruinieren, und zweitens, der Laborleitung eins auszuwischen. Ich meinerseits hoffe, dass er mit Mittelscheitel und Glitzerhaarspangen kommt, aber das werde ich ja sehen.
Liv Marit
Aus dem Leben zweier Chemiestudenten, Klassische Analysen Tag 2 (insgesamt: Tag 9) Ich habe heute zum Frühstück Porridge gegessen, zum zweiten Frühstück Haferbrei und zum Mittagessen Müsli. Mich hat der Hafer gestochen.
Die klassischen Analysen gehen gut weiter. Meine Vielheit (da Wenigkeit mir nicht gerecht wird), Lit Marvin und unsere Boxpartnerin/die bewundernswerte Person, die mich und Lit Marvin aushält, planen den Tag. Titration des Tages: Bromid. Die funktioniert tatsächlich hervorragend. Bin schwer begeistert. Jetzt, wo Lit Marvin nicht mehr alles versaut, kann ich arbeiten, denke ich. Meine gute Laune hält exakt so lange an, wie ein Liter Joghurt braucht, um durch eine 16 Meter lange, um 45° geneigte Röhre zu 90% hindurchgeflossen zu sein. Anders gesagt bis zur Titration des Silbers. Durch eine Fehlinterpretation der Farbe des Indikators (was ein wirklich häufiges Phänomen ist, das könnt ihr uns glauben) verkacke ich es. Muss ich nochmal machen, bin genervt. Ein Blick auf Lit Marvin könnte mich aufmuntern – ich könnte mich daran weiden, dass sie noch langsamer ist als ich – aber ich probiere heute eine weniger streitlustig-arschlöchige (Neologismus meinerseits: provocunte) Persönlichkeit aus. Daher bin ich vergleichsweise freundlich und friedlich, was Lit Marvin mehr verstört als wenn ich sie vom Elefantenfußhocker geschubst hätte. Manchen Leuten kann man es nicht recht machen. Beim Eintropfen wird die Silberanalyse rot, was mich dazu veranlasst, “Von meiner Decke tropft das Blut von meinem Nachbarn” zu singen. Ich würde es unserer Boxpartnerin wirklich nicht übel nehmen, wenn sie mich oder Lit Marvin mit einer Bürette erstäche. Gegen sechs erreichen meine Entzugserscheinungen durch kontinuierliche Trennung von meiner phylakterischen Mütze – in die ich also einen Teil meiner Seele eingelagert habe – kritische Werte. Meine Nickelwägung (totaler Scheiß, sage ich euch) ist von meiner Aura eingeschüchtert und lässt sich weitestgehend widerstandslos wiegen. Plane mit der Boxpartnerin die Analysen am Donnerstag. Antimon. (Vergleiche mein diesbezügliches Gedicht). Vielleicht wird das ja besser. Bestimmt. Danach nach Hause. Anime und gefüllte Paprika. Habe ich mir verdient.
Friedrich J. Schnall
Aus dem Leben zweier Chemiestudenten, Quantitative Analyse, die klassischen Ich muss wegen einer Übung für Organische Chemie schon frühmorgens ins Institut. Ich verstehe aber überhaupt nichts. Der gestrige Mettwoch-Abend war lang, Friedrich und ich haben ein paar Studenten aus anderen Fakultäten getroffen. Es war richtig cool, hat aber dafür gesorgt, dass ich mich nicht mehr auf besagte Übung vorbereiten konnte. Ich ärgere mich über mein Arbeitsverhalten. Wenn ich bis zum Ende des Semesters Meth kochen können möchte, muss ich mich ein wenig ranhalten. Die verbleibende Zeit im Institut nutze ich, um mich auf den heutigen Tag vorzubereiten. Dementsprechend komme ich ausnahmsweise pünktlich an, und stelle fest, dass mein Platz mit Zettelchen und Preisen bestückt ist. Ach ja, Saalkasse, da war ja was. Wenn man sich im Labor unangemessen verhält, muss man zahlen. Davon wird später eine Chemikerparty finanziert. Ich bin mir sicher, den Platz abgewischt zu haben, jedoch hat das Silbernitrat anscheinend reagiert und schwarze Flecken hinterlassen. Mist. Ein Becherglas mit Ammoniakwasser habe ich nicht mit Platznummer und Namen beschriftet. Das muss man, denke ich? Dann weiß ich es eben für das nächste Mal. Friedrich geht heute eher sparsam mit Sprüchen um, aber diese Konversation kann ich euch nicht vorenthalten: Ich stehe planlos vor meinem Laborschrank:,,Was wollte ich nochmal?” ,,Das weiß ich doch nicht.” ,,Wieso kennst du meine Gedanken nicht?! ~Kennst du die Gedanken der Kakerlaken um dich herum?” Ich befinde die Bezeichnung für akzeptabel und die Konversation für aufschreibenswert, dann mache ich weiter.
Es geht bei mir eher mäßig voran, während Friedrich über seine richtige Antimon-Analyse glücklich ist. Selbige ist wenigstens verhältnismäßig leicht in der Durchführung. Jedoch differieren meine Werte sehr stark, sodass ich Zweifel an meiner Vorgehensweise bekomme. Mir dämmert es, dass ich immer noch nicht die Ich-schütte-mal-zusammen-und-schaue-was-passiert- Mentalität aus den qualitativen Praktika abgelegt habe. Irgendwie will ich jetzt diese Praktika nochmal machen. Aber es hilft nichts. Angst vor Assistenten bekomme ich auch. Da der elfte im elften ist, trägt der Praktikumsleiter eine Pappnase, erinnert mich aber eher an Pennywise, als an etwas Lustiges. Nachdem ich für meine Nickelanalyse gefühlt zweiundzwanzig mal meinen Glasfiltertiegel getrocknet habe und ihn endlich wiegen kann (und im Wägeraum feststelle, dass die Asbestwitze keine Witze sind, da sich dort für selbiges ein Abluftrohr befindet), scheitere ich daran, eine Wasserstrahlpumpe anzuschließen. Schließlich klappt es aber doch, aber ich muss mich sputen. Ich habe noch nie so schnell im Labor gearbeitet, hoffentlich ist mir dabei kein dummer Fehler unterlaufen. Außerdem muss ich noch zwei Euronen fürs Überziehen zahlen. Wenn das so weitergeht, werde ich noch zum Hauptsponsor der Praktikumsparty. Das muss unbedingt verhindert werden.
Liv Marit Frey
Heute Nickel und Eisen abzugeben – Ersteres eine völlige Horror-Analyse, die drei Tage dauert, Zweiteres eine eher handzahme. Dem Moravec’schen Paradox folgend bekomme ich es aber hin, die verhältnismäßig wenig Rechenleistung erfordernde Nickelanalyse mit Bravour zu meistern, die sensomotorisch anspruchsvollere Eisenanalyse hingegen zu verhauen. Meine Enttäuschung hält sich in Grenzen – die Aussicht, nicht erneut drei Tage mit dem Fällen von Dimethylglyoximnickelniederschlagsaliquoten verbringen zu müssen, wiegt die Enttäuschung auf. Rückblickend fällt mir auf, dass man eine Maßlösung, die nach allem, was wir in unseren mehr als zwei Semestern Chemiestudium gelernt haben, gegen Licht empfindlich ist, vielleicht nicht zwanzig Minuten vor Titrationsbeginn in die Bürette einfüllen sollte. Welch seltsame Wendung. Ich zucke die Schultern und nehme an, dass es wahrscheinlich Lit Marvins Schuld war. Ich sage während des Praktikums etwa 19,8mal “Joghurt”, wobei es sich meiner unbescheidenen Meinung nach um eine Universalantwort handelt, welche “Hm”, “Ah”, “Bruh”, “Oof” und “Urinieren Sie sich hinfort, Sie Gesäßöffnung” locker das Wasser reichen kann. Lit Marvin ist anderer Meinung und droht mir Gewaltverbrechen an, welche ich aus Rücksicht auf zartbesaitete Leser hier nicht wiederholen möchte; es sei versichert, dass sie ihrer kreative Ader bezüglich des Umgangs mit Labormaterialien freien Lauf gelassen hat. Ein weiteres Problem tut sich auf, als ich meinen Nickelniederschlag entsorge. Dazu Folgendes: Ich empfehle niemandem, das Wasser in der Nähe des Chemischen Instituts zu trinken, sich damit zu waschen, damit in Berührung zu kommen oder sich ihm überhaupt mehr als drei Kilometer zu nähern: “Darf man das eigentlich in den Ausguss kippen?” –> “Jetzt, wo du es sagst… ich glaube nicht.” Es sollte erwähnt werden, dass diese Unterhaltung exemplarisch steht für die typischen Gespräche von Laborstudenten. Nicht zuletzt heißt es:
Wangen sind rot Lippen sind blau
Hast du das Cyanid entsorgt?
Ich weiß nicht mehr genau
Friedrich J. Schnall
Aus dem Leben zweier Chemiker, Quantitative Analyse, Dienstag 16. November. Ich schreibe morgens noch Protokolle und skippe dafür eine Vorlesung, bin aber nicht wirklich produktiv dabei. Meine Amygdala ist der Ansicht, ohne jegliche ernsthafte Bedrohung auf Hochtouren laufen zu müssen, was sich den Rest des Tages auch leider nicht wirklich ändert. Wenn das so weitergeht, reklamiere ich sie. Zwei Protokolle abgegeben, mit eigentlich einfachen Analysen und wenig streuenden Werten, beide falsch. Da muss sich irgendein systematischer Fehler eingeschlichen haben. Frust, ich sage sofort, dass ich das Praktikum wahrscheinlich nicht mehr schaffe. Friedrich meint, ich soll erstmal 10 Minuten warten und die Aussage nochmal überdenken. Ergibt Sinn, ich tu das. Ich führe die Eisenanalyse durch und hoffe, dass es funktionieren wird, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass einige meiner Vorgänger daran gescheitert sind. Friedrich rät mir, die Werte zu korrigieren, was ich aber tunlichst bleiben lasse. Zu meinem Glück, denn sonst wäre die Analyse falsch gewesen, somit habe ich sie zumindest erledigt. Außerdem habe ich richtig viel Reinhardt-Zimmermann-Lösung übrig, sodass ich kommunistisch mit anderen teilen kann. Ich laufe den Rest des Tages mehr oder weniger auf Autopilot und frage mich, warum ich das hier eigentlich studiere. Allerdings fallen mir trotzdem eine Reihe von Gründen ein, allen voran Crystal Meth.
Liv Marit
Leben zweier Chemiker, quantitative Analyse, Donnerstag, der 18. November Es ist der potentiell finale Tag. Die Eisenbestimmung nach Reinhardt-Zimmermann ist die letzte Hürde, die es (zum zweiten Mal) zu überwinden gilt. Schaffe ich sie heute, so bin ich ein freier Mann, scheitere ich, so muss ich in Schande nächste Woche wieder zu Kreuze kriechen. Ich arbeite schnell, paranoid und fahrig. Meine Psyche wird von nichts als Klebeband, Verzweiflung und zwei Haferkeksen mit Rosinen zusammengehalten, und es ist ein großartiger Zustand. Lit Marvins selbstgekochtes Meth ist nichts dagegen. Das Aluminiumprotokoll zurückbekommen. Maximale Punktzahl. Erleichterung. Montiere einen Teil des Klebebands ab. Großer Fehler. Durch einen der damit abgedichteten Risse sprüht ein Kommentar, der ätzender als konzentrierte Phosphorsäure ist (zufälligerweise ein Bestandteil der Reinhardt-Zimmermann-Lösung, die Lit Marvin gestern zusammengebraut hat und von der ich mich nun bediene – falls etwas schiefgeht, bestimmt ihre Schuld) und Lit Marvin mitten in die Gefühle trifft. Denke ich zumindest. Glückicherweise stellt sich heraus, dass sie so sehr mit Panikschieben angesichts der Nickelanalyse beschäftigt ist, dass mein Kommentar sie nicht noch weiter aus der Bahn werfen kann. Ich habe also eine Bombe an den Schienen von Lit Marvins Train of Thought befestigt, nur um festzustellen, dass das Ding bereits entgleist und auf dem besten Weg in einen Meteoritentornadovulkan ist. Tse. Was tue ich nun mit meiner angestauten Fiesheit? Bekomme eine Nachricht von einer Freundin. Hipp hipp hurra, ein Ventil ist gefunden. Ich hinterlasse eine Sprachnachricht, die erwachsene Männer zu heulenden Wracks werden lassen kann. Sie schreibt drei Minuten später: “Ah, hast du gerade Praktikum?” Sie ist großartig. Komplettiere meine Eisenanalyse. Ziehe ein Prozent von meinem Ergebnis ab, da ich letztes Mal zuviel hatte und man bei Eisen generell fast immer zuviel hat. Gebe ab.
Regressiere sofort in ein primatenartiges Stadium, in dem ich meine Artgenossen mit Scheiße bewerfe, sobald sie mir zu nahe kommen. Sehe den Assistenten, wie er viel zu lange mit meinem Protokoll braucht. Bin geneigt, zu brechen. In meinem Kopf dreht sich alles. Bekomme das Protokoll zurück. Goldrichtig. Sofortige Heilung aller meiner mentalen Probleme. In meinem Kopf singt ein hundertköpfiger Chorus die Ode an die Freude, ich blase dreizehn Hinrichtungen meiner politischen Gegner ab, werde auf einen Schlag drei Jahre jünger und erhalte all meine gottgleichen Fähigkeiten zurück. Platzabgabe, gloriosestes Gefühl, ich bin froh und frei. Leihe mir von Lit Marvin acht Euro für die Saalkasse (wovon drei nicht meine waren, aber nun gut). Fühle mich sehr schmarotzerisch und schamlos. Ein schöner Zustand. Ab nach Hause. Nie wieder Quanti. Denke ich, bis mir auffällt, dass über den Stoff übernächste Woche noch die Klausur ansteht. Mist.
Friedrich J. Schnall
Aus dem Leben einer Chemiestudentin, Montag 22. November
Was bisher geschah: Mein allezeit geschätzter Kollege Friedrich hat das Laborpraktikum beendet, ich habe endlich einige Protokolle abgegeben, die fast alle falsch waren. Immerhin hat die gravimetrische Nickelbestimmung funktioniert. Wie das bei einer derartigen Differenz passieren konnte, weiß ich auch nicht so ganz. Heute alleine in meiner Laborbox, sehr ungewohnt, diese Ruhe. Ich habe mich ordentlich vorbereitet und meine Protokolle geschrieben, gebe mein Bromprotokoll ab. Ich bekomme es zurück und sehe erstmal nur, das ich eine Reaktionsgleichung korrigieren muss, die ebenso unausgeglichen ist wie ich. Ich lege das aber erstmal beiseite, schließlich muss ich noch einige Experimente durchführen. Ich beginne mit Carbonat; diesmal bin ich zuversichtlicher, da meine Werte alle fast gleich sind (manche sind sogar gleicher als andere). Zwischendurch kommt ein Assistent zu mir und meinte ich solle die korrigierte Protokollversion doch mal abgeben. Ich korrigiere, jedoch schaffe ich leider in der Nervosität weder mein seelisches noch das Gleichgewicht der Formel wiederherzustellen. Mist, ein Punkt Abzug. Dafür war die Brombestimmung richtig, immerhin. Carbonat ist jedoch ein totaler Reinfall, viel zu viel. Davon frustriert, setze ich meine Silberwiederholung fort und lasse diesmal einen Assistenten drüberschauen. Leider findet er den systematischen Fehler, den ich gemacht haben muss, nicht, was mich ziemlich wurmt. Immerhin ist Silber dann erledigt. Morgen muss ich allerdings nochmal besser ran.
Aus dem Leben einer Chemiestudentin, Dienstag, 23. November
Heute wird ein harter Tag, ich habe meine Protokolle penibel vorbereitet und muss nun noch einmal Performance leisten. Ich fange mit Antimon an. Ich meine mittlerweile, dass ich die ersten Schritte sämtlicher Experimente auswendig kann, vor allem das Auffüllen der Messkolben auf 100 ml mit Wasser. Nur habe ich nicht bedacht, dass bei Antimon eine Ausnahme besteht: Die Antimon(III)chloridlösung bildet im Neutralen, bzw bei Zugaben größerer Mengen Wasser Antimon(III)oxidchlorid. Dieses sehe ich sich weiß im Messkolben absetzen und bekomme Panik. zum Glück habe ich noch nicht bis auf 100ml aufgefüllt, und man sagt mir, dass ich einfach noch etwas konzentrierte Salzsäure hinzufügen soll. Das tu ich, und das Problem hat sich im wahrsten Sinne des Wortes gelöst (nein, ich entschuldige mich an der Stelle nicht für das Wortspiel). Ich beginne mit der Titration, reine Routinearbeit. In der Routine kommt man manchmal auf dumme Gedanken, so frage ich mich, während die Kaliumbromatmaßlösung, welche fröhlich aus der Bürette vor sich hin tropft, eigentlich riecht. Also schnüffle ich dran, natürlich nur in ordentlicher Chemikermanier (man fächelt sich den Geruch mit der Hand zu). Später stelle ich fest, dass das Zeug krebserregend ist. Na ja was soll’s, es ist schließlich für die Wissenschaft. Kaliumbromat riecht übrigens ziemlich gut, auch wenn der Geruch schwer zu beschreiben ist. Dankt mir später. Meine Werte sehen gut aus, später wird mir von der Korrektur des Assistenten bestätigt, dass sie es auch sind.
Nun geht es zur komplexometrischen Simultanbestimmung von Magnesium und Calcium. Wie der Name vermuten lässt, müssen hier zwei Elemente quantitativ bestimmt werden, das bedeutet die doppelte Arbeit aller anderen Analysen. ,,Siehst, Chemiker, du den Umschlagspunkt nicht? Den Umschlagspunkt von grün nach rot? Mein Oxalat! Es ist das falsche Aliquot”. Da hier wie beschrieben von grün nach rot titriert wird, ist der korrekte Umschlagspunkt recht gut zu erkennen. Dann folgt jedoch der zweite Teil, in dem von violettrosa nach reinblau titriert werden soll, und ich sehe mich gezwungen, mir solche profanen Fragen wie ,,welches blau ist blau genug?” zu stellen. Zumal Farben ja extrem unterschiedlich wahrgenommen werden; es gibt sogar Kulturen, in denen bestimmte Farben gesehen oder nicht gesehen werden, einfach nur, weil ein Wort dafür existiert – oder eben nicht existiert (an dieser Stelle sei das Video von maiLab dazu empfohlen). Zurück zu meinem Problem: Ich löse es, in dem ich solange titriere, bis ich es selbst als reinblau empfinde, schreibe den Punkt auf, titriere dann aber noch ein bisschen weiter, um zu sehen, ob sich die Farbe ändert (was sie tut). Mein Vorgehen scheint korrekt zu sein, denn dieses Protokoll bekomme ich vom Assistenten mit einer Mischung aus Sarkasmus und Erleichterung, dass ich es doch noch hinkriege, zurück. ,,Frau Frey, Sie retten sich auf den letzten Metern!” Erleichterung macht sich auch bei mir breit. Ich habe geleistet, nun muss ich morgen nur noch die acidimetrische Bestimmung von Carbonat wiederholen.
Aus dem Leben einer Chemiestudentin, Donnerstag, der 25. November 2021 A.D.
Heute ist mein letzter Kochtag. Carbonat, eigentlich dämlich, da es die einfachste Analyse ist, ausgerechnet diese habe ich zweimal verfehlt. Aber nun gut, es hilft nichts, ich mache sie routinemäßig nochmal. Eigentlich ist sie zum wiederholen auch sehr angenehm, da sie schnell geht und man außer der Analyse lediglich eine Salzsäure-Maßlösung und Mischindikator benötigt. Ich titriere geschwind und bekomme mein Protokoll mit den Worten ,,Sehr schön!” zurück. Ich bin erleichtert, das Praktikum ist bestanden. Aber noch komme ich raus, denn nun ist Putzen angesagt, was sehr viel länger dauert, als mir lieb ist. Zumal sich immer noch ein rosa Fleck auf meiner Bürette befindet, der ganz am Anfang des Praktikums dort hingeraten ist. Nachdem ich zumindest meinen Assistenten davon überzeugt habe, dass es sich lediglich um ausgelaufenen Folienstift und nicht um Kaliumpermanganatlösung handelt, versuche ich es mit allen möglichen Chemikalien, nichts jedoch klappt. Schließlich komme ich auf den Gedanken, dass ich es einmal mit profaner Seife versuchen könnte und – tadaa, es klappt! ,,Manchmal ist das Leben so einfach”, kommentiert mein Assistent. Nun muss ich aber noch in den schmalen Bürettenhahn, was mit der Seife nicht klappt. Mein Assistent schlägt vor, selbigen in eine Mischung aus Salzsäure und Wasserstoffperoxid zu legen. Auch das klappt. Gute Chemiker haben für alles eine Lösung. Grund genug, selbst eine zu werden, also lasse ich mich weiterhin nicht ins Bockshorn jagen und mache mit meinem Studium weiter. Trotzdem bin ich erstmal froh, nach Wochen von Stress, Impostor Syndrom und sarkastischen Sprüchen das Labor erstmal verlassen zu können.
Liv Marit
Nun, ich hoffe dass das Leben von Chemiestudenten hier ein wenig entmythologisiert wurde. Nein, wir stellen kein Meth in abgelegenen Wohnwagen her. Wir betreiben Wissenschaft! Mal mehr, mal weniger ordentlich, wie man gesehen hat. Mit dem Labor verbindet mich je länger je mehr eine Hassliebe, ist man drin, ist es großer Stress, ist man draußen, vermisst man es auf seltsame Weise doch. Auf das nächste Laborpraktikum!