Als vor 75 Jahren der für Deutschland längst verlorene 2. Weltkrieg
durch die bedingungslose Kapitulation des “Großdeutschen Reiches”
endlich beendet wurde, war ich 12 Jahre alt. Nach Adam Riese bin ich
also jetzt 87. Bei so hoch betagten Menschen lässt dann meistens das
Gedächtnis nach. Die Erinnerungen an die damaligen Ereignisse haben sich aber so tief in meinen Kopf eingebrannt, dass ich sie vor Augen sehe, als wären sie gestern geschehen. Da höre ich noch die abgeworfenen Bomben pfeifen, während wir im Keller unseres Häuschens bangten und beteten, dass keine uns treffen möge. Von Dresden ist zwar bekannt, dass es vom allerschwersten Bombenangriff betroffen wurde, aber das häufigste Ziel, vor allem vor der Invasion, war doch Köln. Einfach wegen der relativ kurzen Entfernung aus England und weil der Rhein auch bei totaler vorgeschriebener Verdunkelung eine gute “Zielscheibe” bot. Wir wohnten im Kölner Norden in der Nähe der Fordwerke. So blieben wir einigermaßen verschont.
Zusammen mit meiner Mutter und meinem jüngeren Bruder lebte ich 1945 auf einem Bauernhof in Oldenburg, auf der Halbinsel Butjadingen in der Nähe von Nordenham. Es war ziemlich einsam dort. Das nächste Dorf mit dem exotischen anmutenden Namen “Morgenland” mit Schule und einer Hand voll Geschäften und Wirtshäusern sowie einer kleinen Kirche war fünf Kilometer entfernt. Irgendwelche Busse gab es nicht. Also mussten wir täglich zur Schule laufen. Die bestand aus einer einzigen Klasse. Ich hatte Glück und fand in einer Ecke der Scheune ein leicht verrostetes Fahrrad, das ich mit Hilfe des jüngeren Bauernsohns wieder flott machte.
Rundum nur Wiesen mit weidenden Kühen, durchzogen von Wassergräben.
Für Großstadtkinder wie uns eine langweilige Einöde. Aber doch ein
Paradies im Vergleich zu der Hölle in Köln mit den ständigen
Terrorangriffen der amerikanischen und englischen Bombengeschwader, denen wir durch die Vorsorge meines Vaters entronnen waren. Eine seiner Schwestern, Tante Traudchen, hatte diese Möglichkeit mit ihren Töchtern bereits wahrgenommen und es mit ihrer Resolutheit geschafft, ein Zimmer für uns auf einem großen Bauernhof zu organisieren. Das wurde normalerweise vom ältesten Sohn des Bauern bewohnt, der jetzt aber in Russland für “Führer, Volk und Vaterland” als Infanteriesoldat kämpfte.
Durch unser kleines Radio, das man damals Volksempfänger nannte (der Volkswagen ist immer noch weltweit als solcher bekannt), bekamen wir die Nachricht von der Kapitulation mit. Sie wurde durch einen Großadmiral ausgesprochen, weil sich Hitler, Göbbels und andere Nazigrößen bereits so oder so vom Acker gemacht hatten. Durch eine Art Buschtrommel erfuhren wir dann bald, dass Panzer der Alliierten schon auf Seefeld zurollten.
Das war für uns Jungs natürlich spannend. Endlich mal wieder was los! So machten wir uns auf nach Seefeld. Die Schulkameraden warteten auch schon auf dem Marktplatz. Die Eltern hatten ihnen das erlaubt, nachdem der Lehrer erklärt hatte, die Amis, Tommies und Franzmänner seien so was wie Befreier.
Und dann kamen sie. Gleich fünf furchterregende gewaltige 4M Sherman-Panzer rollten auf den Marktplatz und zermalmten einen Teil des gepflegten Pflasters. Einige Jungs bekamen Angst, weil die Kanonen direkt auf sie gerichtet waren. So was kannte man bisher ja nur aus der Wochenschau im Kino. Als die Besatzungen der Panzer festgestellt hatten, dass hier keinerlei Widerstand mehr zu erwarten war, kamen sie nacheinander aus der Luke nach draußen, setzten sich hin und guckten sich um. Was sie sahen, gefiel ihnen, vor allem die deutschen Fräulein, von denen sie schon viel gehört hatten. Bald würden sie lernen, das man die hier als “Deern” bezeichnete und die meisten naturblond waren.
Einer rief uns etwas zu, das wie “good mornin boys” klang. Ein anderer Junge stupste mich an und sagte: “Du kannst doch schon ein bisschen Englisch. Quatsch mal mit denen.” Indeed hatte ich auf dem Gymnasium sowohl bei der Kinderlandverschickung in Westpreußen, also dem besetzten Polen und nach meiner Rückkehr auch auf dem Humanistischen Gymasium in Köln-Nippes bereits Englisch auf dem Schulplan gehabt. Ich fasste Mut, trat ein paar Schritte vor und stotterte den Soldaten auf dem ersten Panzer etwas vor, dass nach “Welcome in Germany” klang. Da war der Mann aus Kanada, wie wir später erfuhren, total überrascht und erstaunt. Hatte er doch angenommen, in dieser ländlichen Gegend nur Kinder anzutreffen, die lediglich so einen ostfriesischen Dialekt sprachen. Er und seine Kameraden überfielen mich dann mit einem Wortschwall, wozu ich immer eifrig nickte und ständig Yes! schrie, worin meine Kameraden einstimmten.
Das schien einem der Panzersoldaten zu gefallen, er rief “Boys, wait a
minute please!” und glitt durch die Luke nach unten. Einige Feiglinge
rannten weg, dachten, der würde jetzt mit einer Maschinenpistole
zurückkommen oder gar mit der Panzerkanone schießen. Er kam auch bald zurück, hatte aber alle Hände voll mit Schokoladetäfelchen. Wir kriegten große Augen. So was hatten wir noch nie gesehen. Schokolade, Kakao und Bohnenkaffee waren uns fremd wie Schnee in der Sahara. Wieder wurde ich angestupst. “Vielleicht kriegen wir was davon ab.” Und wir bekamen nicht nur was ab, sondern den ganzen Berg Schokolade. Ich verteilte die Riegel an die Freunde und wurde so zum Helden des Tages. Einer betrachtete die Schokolade und sagte sinnend: “Hätte nie gedacht, dass so etwas in einem Panzer ist.” Er konnte ja nicht wissen, dass diese Hershey-Riegel millionenfach in den USA als Notfallration für die alliierten Streitkräfte hergestellt wurden und jeder Soldat einige in seinem Brustbeutel hatte. Ebenso wurden sie in Panzern und anderen Militärfahrzeugen verstaut. Und mit Notfällen war ja offensichtlich nicht mehr zu rechnen. Ich hatte ihnen auch kurz so gut ich konnte erzählt, wie wir den Versuch eines SS-Sturmbannfühers, einen Volkssturm aus Kindern und Senioren zu bilden, listig sabotiert hatten. Er murmelte dazu etwas von “damned little heros”. Mann, waren wir alle stolz! Jetzt trauten sich allmählich auch die Erwachsenen aus ihrer Deckung. Der Gastwirt kam mit einem großen Schinken daher, nickte mir zu und bedeutete mit mir als “Dolmetscher” den Panzersoldaten, der sei eine hiesige Spezialität und ein Begrüßungs-Present. Da war der Bann gebrochen. Abends wurde dann im Saal des Gasthofs getrunken und getanzt.
Und einige GIs und Deerns kamen sich auch ohne besondere Sprachkenntnisse schnell näher. Die Kriegsgewinner hatten mich vorher noch gebeten, ihnen zu erklären, wie love, girl, nylons und kiss auf Deutsch heißen.
Willi Gierlich