Der ganz normale Uni-Wahnsinn geht (wieder) los

Tag eins des Sommersemesters 2022 A.D. in Vollpräsenz, Dienstag der 5. April
Da ich das Vergnügen hatte, zwei Semester online und eines Hybrid zu studieren, ist heute mein erster Tag in Vollpräsenz – was soll da schon schiefgehen, denke ich naiv beim Aufstehen. Nun ja- Murphy kennt die Antwort – alles! Zunächst erfreue ich mich am Regen, Singin’ in the Rain zählt nicht umsonst zu meinen Lieblingsfilmen. Bald jedoch folgt darauf eine interne Erörterung, ob es schlimmer ist, völlig durchnässt im Hörsaal oder mit lauter Menschen in einem Bus zu sitzen. Um das wertvolle geistige Eigentum, welches sich in meinem Rucksack befindet vor Durchnässung zu schützen, entscheide ich mich schließlich für den Bus und bin angenehm früh da, ohne dass ich mich auf dem Fahrrad hab einregnen lassen. Der Ordnung halber springe ich aber vorher noch in ein paar Pfützen, während die vernünftigen Zellen meines Gehirns mich ,,Warum bist du so?” fragen. Leider nützt das wenig, da die vernünftigen Zellen deutlich in der Unterzahl sind. Einführungsvorlesung Organische Chemie: meine erste richtige Präsenzvorlesung. Neben mir sitzt eine Ukrainerin und wir unterhalten uns ein wenig. Der Professor erzählt hauptsächlich davon, wie das Modul konzeptioniert ist, und dass er die Vorlesung wieder online in ,,netflixgerechter Länge” hochlädt, da er verstehen könne, dass man seiner Stimme nicht anderthalb Stunden zuhören möchte. Was ich nach den anderthalb Stunden Einführungsveranstaltung auch verstehen kann. Nichts gegen meinen Profossor, er ist sehr gut (wie die PARTEI), aber anderthalb Stunden in einem asbestluftverseuchten Gebäude zuzuhören erscheinen mir nicht gerade gehirngerecht. Zwischendurch erreicht er aber mit Anekdoten meine Aufmerksamkeit, als es um den Geruch von Schwefelverbindungen geht. Sehr übel übrigens, muss ich sagen. Mein Wunsch, nie wieder H2S Wasser zu riechen, wird allerdings unerfüllt bleiben, fürchte ich. Er erzählt von einem Kollegen an der alten Uni, welcher mit noch viel übler riechenden Verbindungen mit Selen und Tellur arbeitete. Dieser habe Neue in seinem Arbeitskreis immer mit:,,Haben Sie einen Freund oder eine Freundin? danach nicht mehr” willkommen geheißen. Und recht behalten.
Weiter geht es zur Physikvorlesung. Durch meine Entscheidung, ausnahmsweise nicht Fahrrad zu fahren, zieht sich der Weg hin. Ich komme viel zu spät – der Weg ist gerade so weit, dass es zu Fuß sehr lange dauert und gerade so kurz, dass Busfahren nichts bringt. Jedoch ist der Physikdozent nicht da. Nach über 20 Minuten des Wartens kommt jemand auf uns zu, der uns die Nachricht überbringt, dass die Vorlesungen wohl erst am Donnerstag anfangen. Die Güte, uns dass im Vorfeld mitzuteilen, hat der Dozent jedoch nicht besessen. Oder die Organisation. Physiker sind da ja ein wenig speziell, wie ich die letzten Semester erfahren durfte. Dennoch muss ich im Hörsaal bleiben, da meine Mitbewohnerin ihren Schlüssel vergessen hat. Sie kommt an und ich gehe mit ihr zurück zum Hauptbahnhof, unterwegs machen wir einen Abstecher im Asiamarkt und ich gönne mir eine Flasche süßsaure Chilisoße und mache mich im Anschluss zurück auf dem Weg ins Institut. Naiv nehme ich an, dass die Vorlesung des Besitzers des zuvor erwähnten geistigen Eigentums (treuen Bloglesern als mein Laborpartner Friedrich bekannt) um 13:45 zu Ende ist und ich danach noch flugs in die Mensa kann.
13:56… Es ist immer noch keiner da. Ich zweifle an meinem Alphabetentum und schaue noch einmal in den Discordchat – dort steht weiß auf schwarz (als gebildete Person benutze ich den Darkmode), dass die Vorlesung um 14:45 zu Ende ist. Mist. Na ja, die Essensausgabe hat ja bis 14:30 offen, da wieder Semester ist, denke ich. Also gehe ich zur Mensa, jedoch nur um festzustellen, dass die Essensausgabe um 14 Uhr ist und ich zum Schnabulieren dementsprechend zu spät bin.
Ich habe mich grandios verkalkuliert.
Und sowas studiert.
Ich bekomme noch ein Brötchen ab und treffe ein paar Kollegen aus der Informatik. Die müssen zwar auch schnell weg, da sie im Gegensatz zu meiner Wenigkeit pünktlich beim Essen waren, bleiben aber lange genug, dass ich ihnen mein Leid klagen kann. ,,Heute ist echt nicht dein Tag, oder?” stellt einer von ihnen richtigerweise fest. Gut beobachtet, Watson. Ich gehe zurück zum Institut, um das geistige Eigentum dem Eigentümer zurückzugeben. Endlich. Erfreulicherweise kann ich spontan mit ein paar Kommilitonen noch in der Innenstadt Bubble Tea trinken. Allerdings scheitere ich daran, den Strohhalm durch den Plastikdeckel zu stechen. So langsam zweifle ich an meinem Akademikerstatus. Wenigstens schmeckt der Bubble Tea gut.
Zu hause angekommen, geht es gleich weiter, zu einem Vorbereitungscall eines Vorbereitungscalls, welcher angehende Austauschschüler ein wenig über Thailand informieren soll. Ein Kollege erscheint ein wenig zu spät in zoom, aber im Laborkittel und pipettierend. Absolute Ehre. Jedoch ist der Laborkittel offen. Hmmm denke ich, das ist bestimmt ein Biologe! Tatsächlich bewahrheitet sich die These, er arbeitet in einem Biosyntheselabor, oder so ähnlich. Zwischen Biologen und Chemikern herrscht bekanntlich eine alte Fehde, deren Ursprung nicht mehr recht bekannt ist, die aber zu lustigen Frotzeleien führt. Grenzen zwischen den Naturwissenschaften zu ziehen ist aber bekanntermaßen ohnehin etwas für Anfänger.

Tag 2, sechster April: Murphys Gesetz geht weiter. Ich stehe zwar wie gewohnt früh auf, unterliege jedoch dem Irrtum, erst um 10 ct. eine Vorlesung zu haben. Ich schaue noch einmal auf Instagram; ich habe die Ukrainerin von gestern gefragt, ob sie außer organischer Chemie noch andere Module belegt hat. Ja, habe sie, Mathe II für Chemiker, und sie hoffe, dass ich das auch habe, sodass wir uns sehen. moment… Moment…. MOMENT! Auf meinem Stundenplan für heute morgen steht nichts. Dabei habe ich doch alles akribisch im deutschen Sinne vorbereitet! Ich werfe einen Blick in das elektronische Vorlesungsverzeichnis. Tatsächlich! 8.00 ct ist Mathe. Ich schaue auf die Uhr. 8:35. Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf, packe meinen Laptop ein, vergesse zum gefühlt ersten Mal in meinem Leben das Zähneputzen, schwinge mich aufs Fahrrad und ärgere mich über meine Unorganisiertheit. Schon unangenehm, wenn eine Person, für die das System Uni, die deutsche Bürokratie und Sprache neu ist besser organisiert ist als man selbst. Nun ja, ich sage es immer wieder: der Kleingeist hält Ordnung, dass Genie beherrscht das Chaos. Viel zu spät tauche ich in der Vorlesung auf. Zum Glück ist gerade Pause, weshalb ich zum Glück keinen größeren Eklat verursache. Dummerweise erfahre ich, dass man im Gegensatz zum letzten Jahr nun alle zwei Wochen einen Test ablegen muss. Na großartig. Ich verlasse nach der Mathevorlesung kurz den Vorlesungssaal und sehe alle möglichen Leute, die ich kenne (auch unmögliche), verhalte mich aber maximal socially awkward. Zweieinhalb Coronasemester kicken.
Die Vorlesung für Physikalische Chemie beginnt. Menschen strömen in den Hörsaal, und Punkt 10 ct. ist selbiger leise. Genau in dem Moment klingelt ironischerweise das Handy des Professors. Er versichert uns lachend, dass das keine Erinnerung daran war, mit der Vorlesung anzufangen. Nun ja, diesen Professor muss man auch eher daran erinnern, mit der Vorlesung aufzuhören. Das hat jedoch einen guten Grund, denn er ist sehr begeistert von seinem Thema, und obwohl es sich um das für den Laien vielleicht trockenes (für mich jedoch eher heißes) Thema der Thermodynamik und eine gewöhnliche Vorlesung handelt, schafft er es extrem viel Charisma und Präsenz an den Tag zu legen und somit die Leute mitzunehmen. Ich habe viel Freude an der Vorlesung und denke mir voller Motivation ,,so sehr will ich meinen Job auch mal lieben”.
In dem Sinne, auf ein neues Semester!

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